„Ich übersetze aus dem Italienischen“
Ein persönlicher Nachruf von Cornelia Holfelder-von der Tann
Wenn ich jetzt an Ragni denke, denke ich an die Ragni,
die ich, nachdem ich 1983 nach Freiburg gekommen war, als lebhaftes, freundliches Mitglied eines (damals noch ungegenderten) Autoren- und Übersetzerstammtischs kennenlernte, um später erst zu erfahren, dass sie diesen Stammtisch etliche Jahre früher gegründet und damit den Ausgangspunkt für eine sich über Jahrzehnte immer weiterentwickelnde Freiburger Übersetzervernetzung geschaffen hatte.
die es verstand, mit Charme und Unterhaltungstalent (und gern auch Musik) Lesungen zu machen, nach denen „normalen Menschen“ (Ragnis Diktion für Nicht-Übersetzer) tatsächlich klarer war, was literarisches Übersetzen ist – besondere Highlights die Lesungen aus ihrem eigenen Buch „Figaros Flehn und Flattern“.
die noch, als sie schon nicht mehr arbeitete, unsere Freiburger Übersetzer-Weihnachtstreffen mit Vorlesen und Belegexemplare-Tausch bei sich in der Wohnung ausrichtete, wobei es sie nie störte, dass dafür ihr Wohnzimmer umgekrempelt werden und ihre Küche für die Produktion belegter Brote herhalten musste.
die ein sehr bodenständiger, ganz und gar unprätentiöser Mensch war, dann aber zwischendurch zum Friseur ging, sich in Schale warf und mit Aplomb und Genuss die „Doyenne“ der Übersetzungskunst gab (und war).
die von 2001-2008 Präsidentin des Freundeskreises zur Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen e.V. war, mit mir als Vizepräsidentin. Es waren für den Freundeskreis wahrscheinlich nicht gerade Jahre der Innovation und des Wachstums (dafür waren wir beide nicht die Richtigen), aber Jahre einer ganz guten Arbeit nach innen, dank Ragnis integrativer Art, und einer würdigen Vertretung nach außen, dank Ragnis Fähigkeit zu repräsentieren. Für unser persönliches Verhältnis waren es durchaus Jahre der Innovation und des Wachstums, da wir in dieser Zeit entdeckt haben, dass man viel Organisatorisches auch beim gemeinsamen Schwimmen und Spazierengehen besprechen kann.
die mit großer Selbstverständlichkeit für ihren Mann und später dann für ihren Lebensgefährten in deren letzten Jahren sorgte, es aber trotzdem schaffte, noch ihren eigenen beruflichen Weg weiterzugehen.
die sich mit bewundernswerter Entschlossenheit immer wieder den Herausforderungen der Technik stellte; Ragni schaffte die Schritte zu E-Mail, Internetrecherche, VoIP-Telefon; sie verzweifelte nicht, wenn die Fernseh-Kanäle wieder mal umprogrammiert werden mussten oder ein neues Betriebssystem kam, sie ließ sich helfen, lernte und hielt so bis vor wenigen Jahren den Anschluss.
die unaufwändig, alltagstauglich und überaus essbar („Kann man’s essen?“, fragte sie gern) kochte und lieber in Gesellschaft aß, sodass – trotz meiner Bemühungen, das Ganze etwas paritätischer zu gestalten – ihre „Balkonpfannen“ viele Jahre schon fast mein persönlicher Mittagstisch waren.
die in den letzten Jahren ein Magnet für die Katzen der Nachbarschaft war, weil es bei ihr nicht nur immer ein Häppchen („Ich weiß, die werden zu Hause versorgt, aber …“), sondern auch immer ein kuschliges Balkonstuhlplätzchen oder Schoßplätzchen oder auch Küchenstuhlplätzchen („Die wissen, sie dürfen nicht in die Küche, aber …“) gab.
die, als ihr Gedächtnis schon stark nachließ, in Situationen, die mit Übersetzen zu tun hatten, immer noch diesen Teil ihrer Identität („Ich übersetze aus dem Italienischen“) und passende Gesprächsbeiträge („Beim Übersetzen geht immer was verloren.“) zu finden vermochte, was ihr für mein Gefühl Auftrieb gab.
die mich einiges über „Sic transit gloria mundi“ gelehrt hat, denn sie war in den letzten Jahren, verstärkt durch Corona, oft auch sehr einsam.
die sich, auch als das Leben für sie schwer wurde, drei Dinge immer bewahrte: ihren Humor, ihre Freundlichkeit und ihr Italienisch. Die eigene Welt, in der sie sich mehr und mehr bewegte, schien – auch im Pflegeheim – keine unangenehme zu sein. Übrigens ist der Leiter des Pflegeheims italienischstämmig, was ihr vielleicht auch half, sich dort aufgehoben zu fühlen.
Ragni Maria Gschwend (10. September 1935 – 26. Juli 2021)
war eine vielfach ausgezeichnete Übersetzerin aus dem Italienischen, bekannt und gerühmt für ihre deutschen Fassungen der Werke von Claudio Magris, Italo Svevo, Fulvio Tomizza, Federigo Tozzi, Elsa Morante, Antonio Moresco u. a. m.
In Immenstadt geboren, nach Abitur und Buchhandelslehre, Studien- und Wanderjahren, lebte sie seit 1976 als freie Übersetzerin in Freiburg im Breisgau.
Sie war Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland und im VdÜ, von 2001 bis 2008 Präsidentin des Freundeskreises zur Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen e.V.
Zu ihren zahlreichen Auszeichnungen zählen: Literaturpreis der Stadt Stuttgart (1982), Premio Montecchio Maggiore (1983), Premio Internazionale J. W. Goethe (1988), Premio Monselice (Italo Svevo, 1989), Premio Circe Sabaudia (1989), Förderpreis zum Reinhold-Schneider-Preis (1995), Calwer Hermann-Hesse-Stipendium (1995), Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung (2006), Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg (2006), Paul-Celan-Preis (2006), Bundesverdienstkreuz I. Klasse (2008) und der Deutsch-Italienische Übersetzerpreis für ihr Lebenswerk (2015).
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